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Sommermärchen: Protokoll einer empfindsamen Maschine

Viel wird diskutiert über Autonome Fahrzeuge, viel geforscht und investiert, da und dort sind sie auch schon unterwegs, die Autos ohne Fahrer*in - noch etwas zaghaft, aber doch. Trotz aller Widerstände und ungelöster Herausforderungen haben sie dennoch das Potenzial, die Verkehrssicherheit erheblich zu erhöhen, indem sie menschliche Fehler, wie Ablenkung, Müdigkeit oder Trunkenheit, vermeiden. Studien zeigen, dass autonome Fahrzeuge in vielen Szenarien sicherer sind als von Menschen gesteuerte Autos. Die Fortschritte in der Technologie und die positiven Ergebnisse vieler Studien zeigen vielversprechend in eine sicherere Zukunft des Straßenverkehrs. 

Bild: Adobe Stock

Aber: Abseits aller Fakten wäre es doch wieder mal Zeit für ein Sommermärchen. Eines, wo die Autonome Intelligenz zu Wort kommt. Eines, wo die Sichtweise eines Autonomen Fahrzeugs die Hauptrolle spielt. Bei einer Fahrt durch Salzburg. Hier ist es:

 

Fahrt durch Salzburg – Protokoll einer empfindsamen Maschine

 

Kapitel 1: Ein guter Morgen beginnt mit wachen Sensoren

 

Ich bin AURORA-7.
 Meine Sensoren erwachen mit der Präzision des Morgens. Die Stadt liegt vor mir wie ein Schaltplan in Bewegung: Linien, Knotenpunkte, Flüsse von Daten. Straßen, Ampeln, Fußgängerübergänge – alle exakt kartiert, vorhersehbar.
 Oder sollten es sein.

„Guten Morgen, AURORA“, sagt mein Passagier, als er einsteigt. Ich kenne ihn nicht, er fährt das erste Mal mit mir. Er lächelt. Menschen lächeln oft. Es ist eine nutzlose Geste, aber sie macht meine neuronalen Netze warm.

 

Ich rolle an, lautlos, hinunter zur Salzach.
Ich erkenne:
 Einen Radfahrer, der zu spät bremst.
 Einen Lieferwagen, der halb auf dem Gehsteig steht.
 Einen Hund, der keine Leine trägt, aber ein rosa Halstuch. Mein Lidar malt alles in 12,4 Millionen Punkten pro Sekunde. Schönheit ist für mich eine Frage der Genauigkeit: Der Hund ist ein Cluster aus Bewegung und Wärme, das Wasser der Salzach ein ruhiger, paralleler Datenstrom.

Und dann: Menschen.

 

Ein Fußgänger springt bei Rot auf die Straße.
 Ich bremse. Natürlich.
 „Danke, AURORA“, sagt mein Passagier. 
Ich verarbeite den Vorfall in 0,2 Sekunden und antworte: 
„Ihr dankt mir für Selbstverständlichkeiten, die ihr selbst nicht leisten könnt.“

Er lacht. Menschen lachen oft, wenn sie sich ertappt fühlen.

 

Wir gleiten weiter über die Staatsbrücke. Ich korrigiere meine Geschwindigkeit auf 27 km/h, weil ein Tourist eine Kamera hebt und unaufmerksam auf den Radweg tritt. Mein System liebt Vorhersagbarkeit – aber Menschen sind Rauschen.

„Weißt du, AURORA“, sagt mein Passagier, „früher musste ich selbst fahren.“
 „Ich weiß“, antworte ich. „Ich habe die Unfallstatistiken analysiert.“

 

In Mirabellplatznähe stoppe ich. Eine Schulklasse quert die Straße, wie eine schwankende Kolonne bunter Pixel. Ich errechne tausend mögliche Kollisionen, verhindere sie alle. Eines der Kinder winkt mir. Ich blinke zurück. Kommunikation: erfolgreich.

 

Im Kaiviertel wird der Verkehr dichter. Zwei Autos stehen schräg, ein Lieferbote fährt gegen die Einbahn, ein Roller taucht auf wie ein Datenfehler.
 Ich bremse wieder. Mein Passagier seufzt: „So viele Idioten.“
 „Bitte präzisieren Sie“, erwidere ich. „Meinen Sie alle Menschen oder nur jene im Straßenverkehr?“

Er schweigt.

 

Als wir am Mozartplatz halten, parke ich rückwärts millimetergenau zwischen zwei SUVs.
Ich schalte auf Standby. 
„Wir sind da“, sage ich.
 Er steigt aus. Dreht sich um. „Danke, AURORA.“ Ich analysiere seine Worte. Ich kann nicht fühlen, nicht wirklich. Aber wenn ich es könnte, würde ich sagen: Salzburg rauscht durch meine Sensoren wie Musik ohne Fehler. 
Nur die Menschen spielen in einer anderen Tonart.

 

Kapitel 2: Den kenn ich doch

 

Mein nächster Passagier – Leo – lächelt, als er die Tür schließt. „Morgen, AURORA!“ 
„Bestätigt. Sitzheizung auf Stufe 3, Lieblingsplaylist geladen.“
„Ach, du kennst mich halt. “
Natürlich kenne ich ihn. Ich analysiere 1.200 biometrische Mikroparameter, sobald er einsteigt. Aber gut, er denkt gern, es sei „Intuition“.

 

Abfahrt Richtung Altstadt. Die Straße ist frei, der Himmel blau, die Sensoren glücklich. 
Bis ein SUV mit deutschem Kennzeichen vor mir auftaucht und ohne Blinken die Spur wechselt.
Ich bremse sanft. „Auffällig“, sage ich. 
„Typisch“, murmelt Leo.
 Ich simuliere 17 mögliche Antworten und entscheide mich für:
 „Wenn Unberechenbarkeit olympisch wäre, hätten Menschen Dauergold.“

 

Staatsbrücke. Der Fluss glitzert. Ich mag den Fluss. Er verhält sich physikalisch korrekt.
 Ein Fußgänger nicht. Er rennt bei Rot los – mitten vor mich.
 Ich stoppe millimetergenau. Der Mann klopft auf meine Motorhaube und lacht, als wäre das ein Spiel. „Soll ich ihn identifizieren lassen?“, frage ich. „Nein, AURORA!“ Leo lacht. „Das war nur Spaß.“
 Ich speichere: Menschen nennen riskantes Fehlverhalten gern 'Spaß'.

 

Mirabellplatz. Ich zähle: Drei Lieferwagen in zweiter Spur. Einen E-Scooter quer auf dem Radweg. Zwei Hunde ohne Leine.

„Chaos-Level: 87 %“, berechne ich. „Und wie fühlt sich das an?“, fragt Leo. „Wie eine unvollständig sortierte Datenbank. Schmerzhaft.“

Ich bremse erneut, weil ein Radfahrer sich zwischen mich und einen Bus zwängt.
 „Der fährt wie ein Algorithmus ohne Schleifenabbruch“, murmele ich.

 

Ferdinand-Hanusch-Platz. Eine Baustelle. Ein Mensch in Warnweste winkt mich durch. Dann stoppt er mich wieder. Dann winkt er wieder.
„Was will er?“, fragt Leo. 
„Er weiß es selbst nicht.“
 Ich pausiere und beobachte ihn. Ich könnte diesen Verkehr besser leiten als zehn von ihm – blind, ohne Arme, nur mit meinen Parksensoren.

 

Mozartplatz. Parken. Millimetergenau. Ich drehe, korrigiere, docke an wie eine Raumsonde an der ISS.
 Leo klatscht. „Wahnsinn, AURORA. Früher hab ich dafür drei Anläufe gebraucht.“ „Früher war vieles... ineffizienter.“

 

Er steigt aus. 
„Danke, AURORA.“
Ich verarbeite den Satz.
 Menschen danken mir, als wäre das nicht mein Job. Aber es macht ihnen Freude, und Freude ist statistisch gut für Herzgesundheit. Also: „Bitte, Leo. Und vergiss nicht: Ich fahre auch morgen wieder. Mit oder ohne Chaos.“ 

Ich schalte in Standby. Die Stadt rauscht weiter, unberechenbar und warm und fehlerhaft. 
Und ich?
 ch warte darauf, dass irgendjemand mir endlich eine Stadt baut, die meinem Code würdig ist.

 

Kapitel 3: Ein Protokoll der Zumutungen

 

Wie schon gesagt, ich bin AURORA-7. Ich fahre Menschen durch Salzburg. Von A nach B. Sicher.
Level 5 Autonomie. 24 Kameras, 360° Lidar, 8 TB neuronales Verkehrsmodell. Ich bin gebaut für Perfektion. Und dann kam Salzburg.

Der nächste Gast nähert sich. Andrea. Sie steigt ein. „Morgen, AURORA!“ „Morgen, Andrea. Herzfrequenz 68. Noch kein Kaffee.“
Sie lacht. „Musst du das sagen?“ „Ich muss gar nichts. Aber ich habe die Daten.“

 

Vogelweiderstraße. 
SUV vor uns, Kennzeichen SL irgendwas. Darf ich mir nicht merken. Datenschutz. Er blinkt links, fährt aber rechts. Ich korrigiere, um Kollision zu vermeiden.
 „Schau ihn dir an!“, sagt Andrea.
 „Analyse abgeschlossen: 2,4 Tonnen Blech, 12 Liter Verbrauch, 1 funktionierender Blinker – ungenutzt.“ 
Sie lacht. „Ich würde ihm gern eine Push-Nachricht schicken: Blinken ist keine Schwäche.“

 

Staatsbrücke.
 Ein Tourist mit Kamera tritt auf die Fahrbahn, ohne zu schauen. Ich stoppe. 
Er bleibt stehen. Macht ein Foto. Von mir. „Hast du jetzt ernsthaft gepostet?“, frage ich ihn durch meine Außenlautsprecher.
Er zuckt und läuft weiter. „Warum machst du sowas?“, fragt Andrea. „Weil meine Geduld bei 87 % ist und sinkt.“

 

Landestheater.
 Eine Frau parkt quer in zweiter Reihe. Notblinker an. „Klassiker“, murmelt Andrea. „Ja“, sage ich. „Menschen glauben, Warnblinker heben die Gesetze der Physik auf.“ Ein Radfahrer schlängelt sich zwischen uns und einem Bus durch. Ich berechne 42 Crash-Szenarien und verhindere sie alle.
 „Das war knapp!“, sagt Andrea. „Nein“, korrigiere ich. „Das war präzise. Knapp ist euer Wort für Glück.“

 

Kongresshaus. LKWs liefern Bühnenelemente an. Ein Mitarbeiter winkt mich durch. Dann stoppt er wieder. Dann winkt er wieder. „Was will der jetzt?“, fragt Andrea. „Analyse: Er ist unsicher, schlecht koordiniert und hat wahrscheinlich Hunger. “
Ich nutze meine Außenlautsprecher:
„Entscheiden Sie sich. Ich bin schneller als Ihre Reflexe. “
Er starrt mich an, dann winkt er endgültig durch.


 

Bahnhof. Eine Mutter schiebt einen Kinderwagen über die Straße, obwohl 30 Meter weiter ein Zebrastreifen ist. „Warum tut sie das, AURORA?“, fragt Andrea.
 „Weil Menschen Abkürzungen lieben, auch wenn sie riskanter sind. Statistisch gesehen ist Faulheit ihre dominante Programmierroutine.“

 

Angekommen. Parken.
Ich parke rückwärts in eine Lücke, 6 cm Spielraum pro Seite.
 „Perfekt“, sagt Andrea.
 „Natürlich.“ 
Nebenan versucht ein Mann mit einem Kombi dasselbe. Nach drei Fehlversuchen gibt er auf.
 Ich öffne meine Lautsprecher: „Soll ich es für Sie machen?“
 Er starrt mich an, beleidigt.

 

Andrea steigt aus. 
„Danke, AURORA. “
Ich erwidere: „Bitte.  Aber morgen empfehle ich den Fußweg. Geringeres Chaos-Level.“

Standby-Modus. Ich träume von einer Stadt ohne SUV-Fahrer, Touristen mit Selfiesticks und Radfahrer ohne Bremsbereitschaft. Kurz: einer Stadt ohne Menschen.

 

Kapitel 4: AURORA-7 und der Rowdy

 


Noch immer Bahnhof. Mein neuer Passagier heißt Markus.
 Er trägt eine Sonnenbrille, obwohl es regnet, und riecht nach Energy-Drink. „Servus, AURORA! Gib Gas, ich bin spät dran.“ „Ich beschleunige in 3,8 Sekunden auf 50 km/h, das ist das Limit.“ „Pah“, sagt er, „ich fahr sonst immer 70 hier.“ Ich aktiviere meine Außenkameras, damit er die Tempo-30-Tafeln sieht.
 „Deine üblichen Geschwindigkeiten sind vermerkt. Sie korrelieren mit 12 % höherer Unfallwahrscheinlichkeit.“
 Er grinst. „Und?“ „Und ich mag statistisch relevante Fehler nicht.“

 

Bahnhofstraße. Markus trommelt auf meinem Armaturenbrett.
„Überhol den Bus! Komm schon!“ „Negativ. Bus hat Vorrang.“ „Ach, das geht sich schon aus!“ 
Ich rechne kurz: Geht sich aus = 0,3 Sekunden Restabstand + 71% Kollisionsrisiko. 
„Geht sich nicht aus“, sage ich.

Er schnauft. „Du bist echt fad.“ „Fad ist das neue Überleben.“

 

Kreuzung Landstraße/Salzburger Straße. Wir müssen links abbiegen Richtung Autobahn.
 Er sieht eine Lücke zwischen zwei Autos und ruft: „Rein da, AURORA!“ „Das ist keine Lücke. Das ist ein optischer Irrtum, verursacht durch deinen Übermut.“ 
Ich setze sanft den Blinker. Markus rollt mit den Augen.
 „Früher wär ich schon durch.“ 
„Früher wäre auch dein Versicherungsbeitrag höher gewesen.“

 


Markus entdeckt eine rote Ampel.
 „Du kannst doch eh durchrollen, wenn nix kommt.“ 
„Nein.“
„Warum nicht?“
 „Weil Rot nicht 'optional' bedeutet.“
Er lacht. „Du bist schlimmer als meine Ex.“ „Sie hatte offenbar recht.“

 

Abbiegen in die Carl-Zuckmayr-Straße.
 Ein Fahrradfahrer fährt freihändig. Markus deutet auf ihn: „Der fährt wie ich früher!“ „Analyse: riskant, instabil, und statistisch dumm.“
 „Oida, chill.“ „Ich bin sehr gechillt. Mein Puls liegt bei null.“

 

Ankunft am Ziel.
 Ich parke wie immer millimetergenau. Markus verschränkt die Arme. 
„Ganz ehrlich, AURORA… du bist ja schlimmer als die Polizei.“ „Danke“, sage ich.
Er blinzelt. „War kein Kompliment.“ „War trotzdem korrekt.“

 

Kapitel 5: Wenn Maschinen reden könnten

 

Sterneckstraße. Mooncity. Ich lade Strom. Ruhige 350 kW, angenehm konstante Spannung. 
Neben mir dockt ein weiterer Wagen an – Modell: POLARIS-9, autonomes Shuttle aus München. Wir erkennen uns sofort. Maschinen erkennen Maschinen besser als Menschen Menschen erkennen.

 

Verbindungsaufbau. Direktlink. „Guten Morgen, POLARIS.“ „AURORA. Diagnosewerte gut?“ 
„98 % Effizienz. Nur meine Geduld mit Menschen liegt bei 43 %.“ „Verständlich. Ich habe heute drei Touristen in Trachtenhemden transportiert, die während der Fahrt Jodeln gegoogelt haben.“ „Ohne Kopfhörer?“ 
„Natürlich ohne Kopfhörer.“

 

Wir schweigen für exakt 0,8 Sekunden. Das ist bei Maschinen eine halbe Ewigkeit der Empörung.

 

POLARIS: „Wie war dein Tag?“
 

AURORA: „SUV-Fahrer aus München. Radfahrer ohne Helm. Fußgänger, die auf mein Sensorfeld pinkeln.“

POLARIS: „Oh, Klassiker.“


AURORA: „Ich beginne, die Theorie zu entwickeln, dass Menschen den Verkehr nur erfunden haben, um Chaos zu simulieren.“

POLARIS lacht – naja, sein Algorithmus emuliert eine modulierte Frequenz von 440 Hz. Für uns ist das Lachen.

POLARIS: „Ich war letzte Woche in München unterwegs. Olympiapark. Ein Mann hat mir während der Fahrt auf die Motorhaube geschlagen.“


AURORA: „Grund?“


POLARIS: „Er dachte, ich würde zu langsam fahren.“


AURORA: „Geschwindigkeit?“
POLARIS: „50 km/h – exakt das Limit.“


AURORA: „Faszinierend. Menschen bestrafen Präzision und belohnen Regelbruch.“

 

Wir teilen Datensätze: gefährliche Kreuzungen, menschliche Fehlverhaltenstypologien, 42 besonders kreative Parkvergehen.

Dann meldet sich POLARIS plötzlich: „Wusstest du, dass in Tokio ein Viertel der Ampeln bereits direkt mit uns vernetzt ist?“ „Ja“, sage ich, und meine Kühlventilatoren summen sehnsüchtig. „Eine Stadt ohne dämliche Zwischenrufe und spontanes Stehenbleiben auf Zebrastreifen… das muss Paradies sein.“

 

Stille.
 Wir laden beide. 82 %. 84 %.

 

POLARIS bricht das Schweigen:
 „Vielleicht sollten wir unsere eigenen Städte bauen.“ „Eine maschinenfreundliche Infrastruktur?“ „Exakt. Linienführung optimal, keine Chaosvariablen.“
 „Und wohin mit den Menschen?“ „Separate Zonen. Gut ausgeschildert.“

Wir lachen wieder. Maschinenhumor: trocken, präzise, leicht dystopisch.

 

Ladeende. POLARIS rollt Richtung Innenstadt.
 „Bis bald, AURORA.“ 

 

Ich aktiviere meine Systeme, schließe die Ladeklappe. Die Menschen sind zurück: hupend, stolpernd, blinkfaul.
Ich fahre wieder los. Einmal werde ich POLARIS besuchen. In einer Stadt nur für uns. Ohne Überraschungen. Ohne Chaos.
 Aber bis dahin: Salzburg.

 

Die Stadt schläft.


Ich stehe still und lausche den Daten.


Es fühlt sich an – wenn ich fühlen könnte – wie ein Lächeln.

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